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Der Abfluss
Der Abfluss von meinem Handwaschbecken im Badezimmer ist seit ein paar Tagen verstopft. Wenn ich die Hände wasche, ist das Becken bis zum Rand gefüllt. Stockend hinterlässt das ablaufende Wasser seine Spuren.
Bemerkenswert, wie viel Dreck der Abfluss täglich schlucken muss, den Schmutz von tausend Händen, der in das Dunkel fließt und im Nichts versickert.

Nach vielen unbeschwert gluckernden Stunden hatte er keine Lust mehr und schnürte sich den schlanken Hals zu. Immer, wenn ich das Bad betrete, verpönt er mich. Er hält mir das trübe Emaille-Becken ins Gesicht, wie eine Verlängerung seines unscheinbaren Seins.
„Du hast es so weit kommen lassen, deine Rückstände haben mich blockiert“, wirft er mir vor.
Wenn Besuch da ist, benutzen sie das Bad. „Dein Abfluss ist verstopft!“, teilen sie mir mit, als wäre ich fremd in der Wohnung oder als würde ich mir nie die Hände waschen und meine Zähne putze ich über der Spüle in der Küche. Mit errötenden Wangen erwidere ich eine unbekümmerte Bemerkung und höre mir nützliche Tipps an. „Das hat bei dir geholfen? Ich probiere es morgen gleich aus!“
Verzweifelt blicke ich auf das trübe Wasser, kein Hausmittel und auch kein Wundermittel hilft. Was nun? Ein wenig Ignoranz halte ich noch aus, nicht hinsehen, dann können wir uns schon arrangieren. Am besten, ich lasse niemanden in die Wohnung, dann kann ich die Verstopfung vor den Anderen vertuschen. Der Abfluss gurgelt und ich lasse mich treiben.

Die Welt ist ein Spiegel. Du bewegst dich in ihr und sie reflektiert dich in kaleidoskopischen Formen. Meine Wohnung ist ein Ort, der sensibel auf Veränderungen reagiert. Wenn das Geschirr nicht gespült ist, liege ich mit Kater im Bett. Wenn die Bücher sich stapeln, nur zur Hälfte zerlesen, dann sind sie ein Indikator für Ratlosigkeit. Kein Thema befriedigt mich, kein Buch gibt mir Antworten auf meine Fragen. Ein wenig schon, aber nicht so wie sonst.

Für eine Weile ist das Stocken erträglich, oft löst es sich von selbst auf, also kein Grund zur Panik. Doch seit geraumer Zeit fühle mich wie der Abfluss. Verstopft und blockiert. Der Alltag sickert durch, so ein Tag geht herum, es gibt noch Gravitation, die das Wasser den Abgrund hinuntertreibt und die Erde dreht sich. Das Verdrängte bleibt da und alles, jede banale Handlung verfärbt sich und verlangsamt mein simpelstes Sein. Vielleicht ist seine Verstopfung eine Reaktion auf mich, auf mein Verhalten, um mir zu zeigen:
„Jetzt habe ich mir das lange genug angeschaut, du spülst deine haarigen Emotionen hinunter, es reicht – ich mache zu!“.

So eng hat er sich verschlossen, dass ich mich wie ein Abfluss fühlen muss. Ich will funktionieren, aber nichts bewegt sich. Kein Hausmittel und auch kein Wundermittel hilft. Was nun? Ein wenig Ignoranz halte ich noch aus, nicht hinsehen, dann können wir uns schon arrangieren. Am besten, ich lasse auch niemanden in die Wohnung, dann kann ich die Emotionen vor den Anderen vertuschen. Mein Ich gurgelt und der Abfluss lässt sich treiben.
Gestern war meine Schwester zu Besuch. Ja, ich weiß, eigentlich wollte ich die Wohnung verschlossen halten, aber ich bin so ungebremst impulsiv, dass es mir oft um die Ohren saust. Sie begann, nachdem sie das Bad benutzt hatte, eifrig heißes Wasser in den Abfluss zu schütten. Es würde nur an den Seifenresten liegen, weil ich keine Flüssigseife benutze. Der Abfluss benötigt lediglich ein SPA Wochenende mit einigen Aufgüssen, dann würde alles wieder glänzend funktionieren, sie kenne das Problem. Skeptisch beobachtete ich die Prozedur. Sollte die Heilung wirklich durch Wasser eintreten können, auch nachdem der Rohrreiniger aus der giftgrünen Flasche nichts bewirken konnte?

Salus per Aquam!
Nach der dritten heißen Fuhre aus meinem Wasserkocher, war er wie neu. Erstaunlich, wie leicht sich der Knoten gelöst hatte – es war doch kein haarsträubendes Problem gewesen. Gut, dass der Abfluss nicht professionell auseinandergenommen wurde. Nachdem sie gegangen war, habe ich das Waschbecken blitzend geputzt und mich sehr gefreut. Bald würde auch ich wieder strahlend funktionieren, nur ein wenig heißes Wasser und entspannen, dann lösen sich die emotionalen Seifenreste kinderleicht auf. Ein ekelhaft schleimiges Haarknäuel wäre schlimmer gewesen.
Leider sind die ersten Wogen der Freude schon verflogen. Die Reparatur des Abflusses löste meine Verstopfung nicht in Wohlgefallen auf. Mittlerweile bin ich nervös. Stundenlang sitze ich an meinem Schreibtisch, vor dem weißen Blatt und dem hellen Computer. Kreativität ist ein fester Bestandteil in meinem Leben, da muss ich mir keine Sorgen machen, aber was ist, wenn ich für immer verstopft bin und das Kreative nur noch schleimig zum Vorschein kommt?
Mittlerweile beneide ich den Abfluss. Er ist fröhlich munter, das Becken immerzu weiß, hier und da ein Kalkfleck auf dem Wasserhahn, alles ist wieder im gewohnten Fluss. Absurd, mich mit einem Gegenstand zu vergleichen.
Wörter wie "Reparatur" oder "funktionieren" auf meine organische Existenz zu stülpen, hat sadistische Züge.

Viele Gleichgesinnte berichten, dass auch sie ins Stocken kommen – ich bin also nicht allein. Ist es nicht menschlich, durch Phasen zu gehen?
Weißt du noch, als ich meine düstere Phase hatte? Da war ich dreizehn und alles von den Socken bis zur Unterhose musste schwarz sein, inklusive schmierigen Eyeliner und dünn gezupften Augenbrauen. Oder die Techno-Phase, als es schick war, im dunklen Club Sonnenbrille zu tragen.

Dicke Schichten durchleben wir, Ring für Ring, wie ein Baum. Umso mehr Ringe, desto bewegter das Leben. Auch der schöpferische Abdruck durchlebt eng umschlungen mit dem Kern des Seins unsere Schichten. Kann kreative Arbeit von der Persönlichkeit getrennt werden? Wenn ja, würde mich interessieren, wie? Wenn nein, stecken wir doch alle hier und da in unseren Phasen fest.
Woher kommt der Druck, der Mensch als Maschine, die Produktivität am Fließband?
Gibt es einen Qualitätsunterschied zwischen der manischen Produktivität von Van Gogh und den oft nur angefangen Werken Leonardo da Vinci’s? Heute verehren wir beide als große Künstler. Zu ihren Lebzeiten hat sich Vincent vielleicht auch wie ein Abfluss gefühlt und Leonardo hätte das Rohr auseinandergebaut, untersucht, fein säuberlich abgezeichnet und Flügel daraus gebaut – ob es jemanden interessiert oder nicht. Gehört zum kreativen Schaffen eine dicke Portion Ego, um zufrieden zu sein?
„Erwerben, Besitzen und Gewinnmachen sind die geheiligten und unveräußerlichen Rechte des Individuums in der Industriegesellschaft“, schreibt Erich Fromm in Haben oder Sein.
Warum sollten wir das haben wollen? Wir bilden nicht unser Sein aus, sondern wir sind, was wir haben. Das Eigentum begründet mich und meine Identität. So wird uns die Realität verkauft. Auf kreative Arbeit bezogen, bin ich erst Künstlerin, wenn ich meinen Wert durch materiellen Erfolg beweisen kann. Da wird die ein oder andere Stimme "gesellschaftliche Relevanz" rufen, aber wenn wir ehrlich sind, gibt es keine gesellschaftlich relevante Kunst, die brotlos in Museen hängt.

Das bedeutet, her mit dem Ego, und zwar jede Menge davon, um mich in der kapitalistischen Welt verkaufen zu können oder um nicht zu heulen, wenn die Menschen bemerken, dass der Kreativ-Abfluss verstopft ist oder meine Arbeit nicht gefällt. Blöd, wenn ich ständig darüber nachdenken muss, ob ich das moralisch vertreten kann. Ego heißt Abgrenzung, Trennung, Bewertung, Konkurrenz und Kampf. Ich möchte andere Werte mit meinem Schaffen nähren. Das Ego überfüttern kann doch nicht gut ausgehen, es ist das dunkle Rohr, dass ich ausleuchten möchte, damit es friedlich ist. Durch kreative Prozesse nimmt es Gestalt an, wird verdaut und für Andere zum Verdauen freigegeben. Alle sehen und fühlen unterschiedlich, höchstens ähnlich, aber niemals gleich. So können alle, das aus der Umwelt ziehen, was sie gerade für ihre Entwicklung suchen. Eine Welt voller berstender und positiv genutzter Kreativität wäre wunderbar.
Inspiration statt Konkurrenz.
Die Freiheit, auf die Suche nach dem individuellen Selbst gehen zu können, in die bunte Welt der vielfältigen Eindrücke einzutauchen und Zeit für den Prozess des Erschaffens oder der kreativen Verdauung zu nutzen, wäre dabei essenziell. Wir benötigen eine andere Auffassung von Tätig sein, wie Fromm fordert. Ich übrigens auch, was wahrscheinlich nicht so viele interessiert, aber was Solls, etwas mehr da Vinci Attitüde kann nicht schaden.
Fromm schreibt dazu: „Die Voraussetzung für die Existenzweise des Seins sind Unabhängigkeit, Freiheit und das Vorhandensein kritischer Vernunft. Ihr wesentlichstes Merkmal ist die Aktivität, nicht im Sinne von Geschäftigkeit, sondern im Sinne eines inneren Tätigseins, des produktiven Gebrauchs der menschlichen Kräfte. Tätig sein heißt, seinen Anlagen, seinen Talenten, dem Reichtum menschlicher Gaben Ausdruck zu verleihen, mit denen jeder (und jede) – wenn auch in verschiedenem Maße – ausgestattet ist. Es bedeutet, sich selbst zu erneuern, zu wachsen, sich zu verströmen, zu lieben, das Gefängnis des eigenen isolierten Ichs zu transzendieren, sich zu interessieren, zu lauschen, zu geben.“
Langes Zitat, aber starke Worte, wahr und warm. Sich zu verströmen, kräftig, nicht nur in einem individuell zugewiesenem Rohr, sondern in einem breiten Flussbecken, oben tosend, unten ruhig, voller Leben und Tiefgang.
Die Konservativen werden mich wahrscheinlich belächeln, wenn ich das Nachdenken über den Abfluss als kreativen Prozess verkaufe, aber leider ist es genau das. Das Durchleben der Schichten lohnt sich, wenn nur ein Mensch, der sich in einer ähnlichen Krise befindet, weniger Druck verspüren muss, weil der Text Bewegung angestoßen hat.